Nächtliche Durchsuchungen
Heute vor 62 Jahren, am 26. Oktober 1962, begann der größte Presseskandal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Mitten in der Nacht klopfte die Polizei an die Tür des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ in Hamburg. Unterlagen wurden durchsucht und Schreibmaschinen beschlagnahmt; die Redaktionsräume wurden versiegelt, so dass die Journalisten dort nicht mehr arbeiten konnten. Außerdem wurden mehrere Redakteure festgenommen. Der Herausgeber des „Spiegel“, Rudolf Augstein, stellte sich wenig später selbst der Staatsanwaltschaft. Der Vorwurf gegen das Nachrichtenmagazin lautete: Landesverrat! Die Veröffentlichung stelle eine Gefahr für den Staat dar.
Warum ging die Polizei gegen ein so bekanntes Presseorgan vor? Der Anlass war ein Artikel, in dem ein Journalist des „Spiegel“ über ein Manöver der NATO berichtete. Angeblich, so der Artikel, war die deutsche Bundeswehr nicht ausreichend gerüstet, um im Falle eines Krieges erfolgreich kämpfen zu können. Viele geheime Unterlagen, die dem Journalisten von einem Informanten zugespielt worden waren, unterstützten diese Aussage.
Sturm der Empörung
Schon am Tag nach der Festnahme der Zeitungsleute gab es erste Proteste. Schnell wurde daraus ein Sturm der öffentlichen Empörung. Schon bald ging es nicht mehr um den Inhalt des „Spiegel“-Artikels. Viele Menschen hatten die Sorge, dass der Staat den Skandal ausnutzen wollte, um die Pressefreiheit einzuschränken. Manche Menschen erinnerte das Vorgehen der Justiz an die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur. Damals waren alle Medien „gleichgeschaltet“ worden, sie durften nur noch berichten, was den politischen Machthabern gefiel.
Viele andere Journalisten solidarisierten sich mit den Kolleginnen und Kollegen des „Spiegel“ und stellten ihnen Büros und Druckmaschinen zur Verfügung. Intensiv wurde recherchiert, wie es zu den Durchsuchungen gekommen war. Als herauskam, dass der damalige Verteidigungsminister persönlich die Verhaftung des Artikelschreibers angeordnet und dabei Gesetze nicht beachtet hatte, war aus dem Presseskandal ein politischer Skandal geworden.
Pressefreiheit und Demokratie gingen als Sieger hervor
Die sogenannte Spiegel-Affäre endete ohne Gerichtsprozess. Herausgeber Augstein wurde nach über drei Monaten aus der Untersuchungshaft entlassen. Der Verteidigungsminister musste zurücktreten. Im Mai 1963 erklärte der Bundesgerichtshof das Verfahren für beendet. Alle Vorwürfe wurden fallengelassen. Der „Spiegel“ durfte sich freuen. Nach der Affäre wurden 200.000 Exemplare des Magazins mehr verkauft als davor.
In seinem abschließenden Urteil zur „Spiegel-Affäre“ schrieb das Bundesverfassungsgericht im August 1966: „Soll der Bürger politische Entscheidungen treffen, muss er umfassend informiert sein, aber auch die Meinungen kennen und gegeneinander abwägen können, die andere sich gebildet haben. Die Presse hält diese ständige Diskussion in Gang; sie beschafft die Informationen, nimmt selbst dazu Stellung und wirkt damit als orientierende Kraft in der öffentlichen Auseinandersetzung.“ Der eigentliche Gewinner des Skandals war also die Pressefreiheit und die Demokratie.